Unglaubliche 4.251 Wörter pro Minute. Das schaffte bisher nur die englische Speedleserin Anne Jones. In beeindruckenden 47 Minuten verschlang sie 2007 die 607 Seiten des Buches “Harry Potter und die Heiligtümer des Todes”. Zum Vergleich: Der Durchschnittsbürger bräuchte dafür geschlagene 17 Stunden. Aber wieso lesen wir eigentlich? Und liest jeder gleich?

Als Volk der Dichter und Denker sollte man meinen, den Deutschen sei die Liebe zur Literatur in die Wiege gelegt. In Wirklichkeit werden die meisten Kinder jedoch nicht als Leseratten geboren. Fehlen die Vorbilder in den Familien, greifen auch die Sprösslinge seltener zum Buch. Und das kann sich negativ auf die spätere schulische und berufliche Laufbahn auswirken. „Vielen Eltern ist der Zusammenhang zwischen Vorlesen, Lesekompetenz der Kinder und Bildung nicht bewusst”, sagt Dr. Rüdiger Grube, Vorstand der Deutschen Bahn AG. So fördere es unter anderem die individuelle sprachliche Entwicklung sowie die Kreativität und Konzentrationsfähigkeit. Alarmierend daher auch die aktuelle Studie der Stiftung Lesen, nach der in fast jedem dritten Haushalt die Märchensammlung nur noch selten aus dem Regal genommen wird.

Die schönsten Seiten des Zeitvertreibs

Dennoch sind Romane und Co. – als bedeutender Baustein unserer  Kultur – für viele Menschen noch immer ein fester Bestandteil ihres Lebens. Wie schon Carl Peter Fröhling, deutscher Germanist und Philosoph, zu sagen wusste: „Ein Leben ohne Bücher ist wie eine Kindheit ohne Märchen, ist wie eine Jugend ohne Liebe, ist wie ein Alter ohne Frieden.” Und mit dieser Ansicht ist er nicht allein. In einer Umfrage des Magazins stern gaben rund 39 Prozent der Teilnehmer an, bis zu fünf Titel im Jahr zu verschlingen. Bei 27 Prozent sind es sogar mehr als zehn Exemplare.

Erstaunlich ist das nicht: Ist das Lesen doch eine willkommene Freizeitbeschäftigung mit großem Erholungsfaktor – sei es an einem kalten Novembertag gemütlich auf der Couch oder an einem lauen Sommerabend im Liegestuhl auf der Terrasse. Oder aber am Strand. Denn die Deutschen sind nicht nur Europas Weltmeister im Reisen, sondern stehen auch in Punkto Urlaubslektüre ganz oben auf dem Siegertreppchen. Nach einer interessanten Studie von opodo.de schmökern 94 Prozent der Befragten gern in der Ferienzeit. Ein ruhiges Plätzchen und Zeit für ein gutes Buch findet sich auf Reisen allemal.

Mitnehmen erlaubt

Dabei bieten Geschichten nicht nur im Urlaub die erhoffte Abwechslung. Man mag es kaum glauben, aber neben der Generation Smartphone, die in Bus und Bahn hypnotisiert auf ihr Display starrt und sekündlich Facebook und Co. checkt, gibt es ihn noch: Den lesenden Wartenden, mit dem Buch in der Hand, früh an der Haltestelle auf dem Weg zur Arbeit. Und das ist keine so schlechte Idee, wenn man bedenkt, wie viel wertvolle Zeit wir täglich in Bus und Bahn vertun.

Eine Kiosk-Kette in Shanghai hat das erkannt und ein Projekt ins Leben gerufen, das auch den chinesischen Pendlern das gedruckte Wort wieder näher bringen soll. Direkt auf den Bahnsteigen verleiht sie kostenlosen Lesestoff an die wartenden Fahrgäste, den man dann auf dem Rückweg einfach wieder bei ihnen abgibt. Quasi ein Buch to go. „Einige Passagiere fragen morgens inzwischen gezielt: Habt ihr neue Bücher im Ausleih-Angebot?” erzählt Zou Shuxian, Mitarbeiter des Unternehmens. Mit dem Konzept werden mittlerweile schon – je nach Haltestelle – zwischen 50 und 100 Exemplare am Tag gehandelt. Der Erfolg scheint den Machern Recht zu geben.

In Darmstadt und Hannover ging man Ende der 1990er Jahre ähnliche Wege. Nach dem Prinzip „Geben und Nehmen” wurden zu dieser Zeit erstmals in Deutschland öffentliche Verleihstationen an belebten Plätzen aufgestellt. Mittlerweile sind die Mini-Bibliotheken weltweit zuhause – in alten umfunktionierten Telefonzellen, öffentlichen Bücherregalen oder in umgebauten, buntbemalten Vogelhäuschen in privaten Vorgärten. Die Idee ist so erfolgreich wie auch simpel: Größere wie kleinere Wälzer können kostenlos und anonym von den Passanten ausgeliehen werden. Ist man mit der Lektüre durch, legt man sie entweder in die Box zurück oder tauscht sie gegen ein eigenes Buch aus.

Buchläden weiter auf Kurs

Wer lieber kauft statt leiht, der findet in Deutschland mit mehr als 6.000 Buchhandlungen sicherlich auch dort das Richtige für sich. Die „geistigen Tankstellen”, wie Altkanzler Helmut Schmidt sie einmal treffend bezeichnet hat, sind nach einer aktuellen Auswertung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. noch immer der größte Vertriebsweg für Literatur in Deutschland. Allein 2014 haben sie mit 4,58 Milliarden Euro einen Anteil von rund 49 Prozent des Gesamtumsatzes erwirtschaftet. Auf Platz zwei und drei folgen die Verlage im Direktgeschäft (20 Prozent) sowie der Internetbuchhandel (16 Prozent).

Die Vorteile des Ladens um die Ecke liegen dabei auf der Hand: „Die Verbindung von sofortiger Lieferbarkeit, gebundenem Preis und individueller Beratung ist einzigartig und kaum zu verbessern. Zudem setzt der stationäre Buchhandel seine ‚Multichannel‘-Strategie um und bewegt sich mittlerweile auf vielen Kanälen”, so Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins. „Die Aktivitäten der vergangenen Jahre tragen jetzt die ersten Früchte. Das Jahr war für uns ein gutes, obwohl die starken Bestseller gefehlt haben.”

Aber was macht eine Geschichte eigentlich zum Kassenschlager? Nüchtern betrachtet sind Bestsellerlisten reine Verkaufszahlen, ermittelt durch wöchentliche Abfragen bei circa 350 beteiligten Buchhandlungen. Die 50 meistverkauften Titel erscheinen dann in diversen Platzierungen wie denen des Spiegel-Magazins. Doch seien wir einmal ehrlich, nicht jeder von uns ist Fan von Rosamunde Pilcher – trotz 60 Millionen weltweit verkaufter Exemplare. Und damit ist es wohl wie so oft im Leben: Am Ende entscheiden der eigene Geschmack sowie die persönlichen Bedürfnisse und Erwartungen, ob wir ein Werk für gut befinden oder es zum Ladenhüter verkommen lassen. In diesem Sinne wusste schon der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach trefflich zu sagen: „Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden.”

Dieser Artikel wurde zuerst in der Ausgabe 01/2015 des Kundenmagazins “sachjournal” veröffentlicht.

 

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